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Endlich! Es hat mal wieder über eine Stunde gedauert, meinen zahnenden Sohn zum Einschlafen zu bringen. Und das ging nur mit ganz viel körperlichem Einsatz. Stillen, umarmen, streicheln und ein gefühlt ewiges Ihn-auf-mir-herumturnen-Lassen. Erschöpft falle ich auf die Couch.

Richtig entspannen kann ich mich nicht. Wer weiß, wann mein Kleiner mich wieder braucht. Wenn es gut läuft, habe ich eine Stunde, vielleicht zwei. Als mein Mann näher rückt und sich an mich kuscheln will, ist das Gefühl wieder da. Ich sage ihm: „Bitte lass mich. Ich muss mal für mich sein.“ Ein anderes Mal: Mein Mann kommt von der Arbeit, öffnet freudestrahlend die Arme, will mich begrüßen. Ich ducke mich, drücke ihn von mir weg.

In den ersten 15 Monaten mit unserem mittlerweile zweijährigen Sohn waren Szenen wie diese alltäglich. Wenn mein Mann Nähe suchte, reagierte ich abweisend. Er fühlte sich dadurch verletzt. Total verständlich. Und ich erkannte mich selbst nicht wieder. Denn eigentlich gehöre ich zu den Menschen, die gerne andere umarmen, die Freundinnen bei Gesprächen berühren. Diese Frau, die plötzlich nicht mehr angefasst werden wollte, hatte mit meinem alten Ich nichts mehr zu tun. Was um Himmels willen war nur mit mir los?

Es gibt bislang keine wissenschaftliche Einordnung für dieses Phänomen

Overtouched-Syndrom bislang nicht wissenschaftlich eingeordnet

Heute weiß ich: Das, was ich am Anfang meines Mutterseins gefühlt habe, war keine plötzliche Abneigung gegen meinen Mann. Ich hatte mich nicht entliebt und aus mir war auch keine andere Person geworden. Was ich erlebte, war das Overtouched-Syndrom. Ein Zustand, den viele Eltern in unterschiedlichster Ausprägung kennen. Gesprochen wird darüber – leider – kaum.

Prof. Dr. Christine Rummel-Kluge, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig, erlebt in der Mutter-/Vater-Kind-Sprechstunde häufig Eltern, die davon betroffen sind. Sie erklärt: „Es gibt bislang keine wissenschaftliche Einordnung für dieses Phänomen. Es ist ein relativ neuer Begriff, für den es noch keine festen Kriterien gibt.“

Overtouched: Wer viel stillt, wird viel berührt

Für sie sei es wichtig, das Syndrom gewissermaßen zu entpathologisieren. Sie beschreibt: „Sich ‚overtouched‘ zu fühlen, ist erst einmal eine häufig vorkommende und normale Erfahrung für Mütter, aber auch für einige Väter.“

Auch wenn das Phänomen nicht auf Eltern von Säuglingen begrenzt sei, komme es besonders häufig bei stillenden Müttern mit sehr kleinen Kindern vor. Rummel-Kluge: „Denn mit dem Stillen hat man das Kind schon ständig auf dem Arm, hat viel Kontakt. Das kann zu einer Überreizung führen.“

Doch warum ist es ein Tabuthema, wenn es doch so häufig vorkommt? Rummel-Kluge erklärt das unter anderem durch Rollenbilder, die sich im Kopf verfestigt haben – und die wir unbedingt erfüllen wollen. Hierbei spielen auch Social Media und Werbung eine nicht unerhebliche Rolle. „Da sieht man Bilder von Müttern, die immer superglücklich sind. Die Babys sind proper, lachen ständig und sind strahlend sauber.“

In der Werbewelt gibt es kein Overtouched-Syndrom

Diese Erwartungen haben viele Eltern dann auch an ihren Nachwuchs. Und müssen erst mal lernen, dass das Image aus der Windel-Werbung von den Erfahrungen, die sie in der Realität sammeln, oft stark abweicht. Sich das einzugestehen fällt vielen Müttern und Vätern zunächst schwer. „Bei Covid kam hinzu, dass der Austausch mit anderen Eltern oft schlichtweg fehlte“, so die Psychiaterin und Psychotherapeutin Rummel-Kluge. „Da konnte man bei befreundeten Paaren nicht miterleben, dass es ganz normal ist, längst nicht immer perfekt, sondern auch einfach mal erschöpft zu sein.“

Bei mir kam zur extremen Müdigkeit das schlechte Gewissen. Ich sollte mich doch freuen, dass mein Sohn mich so intensiv braucht. Immer wieder hörte ich Sätze wie: „Genieß die Zeit, die geht so schnell vorbei.“ Das tat ich oft. Aber ich kam dabei auch an Grenzen. Mein kleiner Junge bedeutet mir die Welt – und die Nähe, die er braucht, gab und gebe ich ihm immer. Bedingungslos. Dabei wäre es gerade während der Stillzeit gesünder gewesen, mal abzugeben. Und meine leeren Batterien wieder aufzuladen.

Körperliche Autonomie ist ein menschliches Grundbedürfnis

Verschiedene Formen des Overtouched-Syndroms

Das Overtouched-Syndrom kann sich in unterschiedlichen Ausprägungen und Formen zeigen. Es gibt auch Eltern, die den vielen Körperkontakt mit ihrem Nachwuchs nicht mehr aushalten. Auch das sei eine völlig normale Reaktion, erklärt Rummel-Kluge. Wo viele Reize sind, kann es irgendwann zu viel sein. Die Oberärztin erklärt: „Körperliche Autonomie ist ein menschliches Grundbedürfnis. Als Mutter trage ich plötzlich ständig kängurumäßig ein anderes Wesen an mir. Viele haben das Gefühl, nicht mal mehr alleine auf die Toilette gehen zu können. Irgendwann kommt es dann zu dem Gefühl der ständigen Gereiztheit, der körperlichen und psychischen Überforderung.“

Zu viel Nähe, zu wenig Schlaf

Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut. Bei mir war es gegen Ende der Stillzeit besonders ausgeprägt. Nach der gefühlt hundertsten Nacht, in der mein Sohn alle eineinhalb Stunden sein „Beruhigungsnuckeln“ brauchte, merkte ich, dass in mir etwas kippt. Ich wollte nicht nur nicht mehr berührt werden, sondern wurde auch richtig wütend. In vielen dieser Nächte sagte ich meinem Mann entschieden: „Morgen hört das auf, ich stille ab.“ Übers Herz brachte ich es dann trotzdem ganz lange nicht.

Mein Sohn hat einen Schnuller immer abgelehnt. Nachts war Stillen die einzige Möglichkeit, ihn zu beruhigen. Er schien meine innere Unruhe zu spüren. Denn je stärker mein Drang wurde, abzustillen, desto mehr forderte er meine Nähe. Die bekam er also immer mehr – und mein Mann immer weniger.

„Das Sexleben wird leiden, sobald du Kinder hast“, hört man immer. Die Gründe dafür, dass die Libido sich gefühlt ins Nirwana verabschiedet, liegen auf der Hand: Übermüdung, wenig Zeit oder ein Kind, das im Bett zwischen einem liegt. Damit hatten wir also gerechnet. Aber dass ich selbst Umarmungen ablehnen würde? Niemals! Umso schwieriger war es, damit umzugehen.

Was tun, wenn alles zu viel wird?

  1. Abgeben. „Es ist ein Zeichen von Stärke, sich Hilfe zu holen“, sagt Ärztin Christine Rummel-Kluge. Der Partner, die Großeltern oder die Nachbarin freuen sich, mal Zeit mit dem Baby verbringen zu dürfen. „Sie geben auch wieder neue Impulse, von denen das Baby profitiert. Und man selbst hat endlich mal Zeit für sich.“
  2. Sich Gutes tun. „Das kann ein Spaziergang zum nächsten Café sein“, sagt Rummel-Kluge. Zur Not das Baby mitnehmen. „Hauptsache, man kommt mal aus seiner gewohnten Umgebung heraus, trifft auf andere Menschen.“ Wichtig sei, möglichst früh Routinen einzubauen, die das möglich machen. Zum Beispiel, das Stillen außer Haus zu üben.
  3. Das schlechte Gewissen überwinden. Rummel-Kluge rät: „Es hilft, sich zu sagen: Ich habe die Verpflichtung, mich um mich selbst zu kümmern. Eine entspannte Mama ist besser als eine, die zwar zu 100 Prozent da ist, aber dabei ständig angespannt und überreizt ist.“
  4. Professionelle Hilfe suchen. Das Overtouched-Syndrom kommt relativ häufig vor. Stark belastete Betroffene sollten sich professionelle Hilfe suchen, rät Rummel-Kluge: „Gerade bei Menschen, die sensibel auf Reize reagieren, kann es schneller zu einer Überreizung kommen.“ Das könne eben auch bei psychischen Erkrankungen so sein. „Beispielsweise bei ADHS oder einer Autismus-Spektrum-Störung“, erklärt die Expertin. Auch wenn zu der Überreiztheit das Gefühl der ständigen Traurigkeit hinzukomme, man sich nicht mehr richtig freuen könne, solle man mit Ärztin oder Arzt darüber sprechen.
  5. Vor Wut schützen. Wenn sich aus Überforderung eine Wut gegen das Kind entwickelt, ist ein Notfallplan wichtig. Rummel-Kluge warnt: „Lieber das Kind sicher ablegen und den Raum verlassen oder den Partner holen, bis man sich beruhigt hat. Wichtig ist, das Kind niemals zu schütteln, das bringt es in Lebensgefahr.“ Schnelle Hilfe gibt es zum Beispiel beim Elterntelefon (Telefon: 0800 / 11 10 55). Auch Kinderarztpraxen oder Schreiambulanzen sind Anlaufstellen.

Wie umgehen mit dem Overtouched-Syndrom?

Damit nicht zusätzlich die Beziehung unter dem Overtouched-Syndrom leidet, ist eine offene Kommunikation das A und O. „Dem Partner gegenüber ist es wichtig, transparent zu sein und zu erklären, dass gerade alles einfach zu viel ist“, sagt Rummel-Kluge. Sonst fühle er oder sie sich abgestoßen, verstehe nicht, was los sei. Sie erklärt: „Viele Frauen neigen dazu, vom Partner zu erwarten, dass er selbst drauf kommen muss, was sie gerade brauchen. Dabei will der oft alles richtig machen, weiß nur nicht wie. Dafür braucht er klare Ansagen.“

Was zusätzlich helfen kann: das Wissen, dass es irgendwann wieder vorbei ist. Das Overtouched-Syndrom verschwindet meist genauso plötzlich, wie es gekommen ist. Bei mir war es weg, kurz nachdem ich abgestillt hatte. Plötzlich sehnte ich mich sogar nach der intensiven Nähe zurück, die ich mit meinem Sohn erleben durfte.

Komme ich jetzt nach einem Arbeitstag nach Hause und mein Mann bringt gerade meinen Sohn ins Bett, dann schleiche ich mich oft zu den beiden ins Schlafzimmer. Wenn mein Kleiner dann schläfrig „Mama“ murmelt, sich an mich schmiegt und mein Mann nach meiner Hand greift und sie sanft drückt, finde ich nichts auf der Welt gemütlicher. Und denke wieder: „Endlich!“ Nur dieses Mal ganz entspannt und glücklich.