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Als meine Mutter erstmals unter schweren Wahnvorstellungen litt, war ich 19. Vermutlich hatte sich ihre schizophrene Psychose über Jahre aufgebaut. Aber als die Krankheit dann voll durchbrach, erwischte es mich kalt.

Meine Mutter lief hektisch durch ihre Wohnung, hatte sich verschiedene Altäre errichtet – aus kleinen Wohnaccessoires, bekritzelten Zetteln, Tüchern und Steinchen. Einige Zimmer mied sie. Die seien ihr nicht geheuer. Und sie sprach – zischend, flüsternd – mit Stimmen, die ich nicht hören konnte, als wollte sie diese Stimmen verscheuchen.

Mittlerweile sind fast 30 Jahre vergangen. Doch was ich damals erleben musste, hat mich schwer erschüttert. Ich musste zusehen, wie meine Mutter gegen ihren Willen von der Polizei in eine geschlossene psychiatrische Klinik gebracht wurde – auf mein Handeln hin. Ich war dabei allein. Es gab niemanden, der mir sagte: ‚Das hast du richtig gemacht. Du hast deiner Mutter geholfen.’ Vergangenes Jahr habe ich zum ersten Mal von einem MHFA-Kurs gehört, einem Erste-Hilfe-Kurs für die Psyche. Und habe mir unweigerlich die Frage gestellt: Hätte ich durch solch einen Kurs meine damalige Situation vielleicht besser meistern können?

Was sind MHFA-Kurse?

Es gibt Erste-Hilfe-Kurse bei körperlichen Notfällen. Für die Führerscheinprüfung sind sie sogar verpflichtend. Aber was ist das Gegenstück zur stabilen Seitenlage bei psychischen Problemen? „MHFA“ steht für „Mental Health First Aid“ – also Erste Hilfe für die seelische Gesundheit. Ursprünglich stammt das Programm aus Australien, wird mittlerweile in 29 Ländern angeboten.

Prof. Dr. Michael Deuschle hat es in Deutschland eingeführt. Er ist Leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Deuschles Vision ist, „dass auch in Deutschland jeder Mensch einen solchen Kurs besucht und dass Erste Hilfe bei psychischen Problemen genauso selbstverständlich wird wie bei körperlichen“.

Das macht Sinn, denn oft verstreicht viel Zeit zwischen dem ersten Auftreten psychischer Symptome und einer Hilfestellung. Das erhöht das Leid der Betroffenen und verzögert die Genesung.

Wie kann man an einem MHFA-Kurs teilnehmen?

Deutschlandweit werden MHFA-Kurse wahlweise in Präsenz oder online angeboten. Ein Kurs dauert zwölf Stunden und ist unterschiedlich gestückelt. Das können sechs mal zwei Stunden in Onlinesitzungen sein oder komprimiert zwei lange Tage vor Ort. Die Kursleiterinnen und -leiter sind Psychologinnen, psychologische Psychotherapeuten, Psychiaterinnen sowie Sozialarbeiter mit Erfahrungen im Bereich Psychiatrie. Maximal 15 Personen bilden eine Kursgruppe.

Was kostet der MHFA-Kurs?

Ein MHFA-Kurs kostet im Durchschnitt 220 Euro. Das ist im Vergleich zu herkömmlichen Erste-Hilfe-Kursen deutlich mehr. Dort zahlt man für die Kursdauer von sieben Stunden rund 60 Euro. Der MHFA-Kurs kommt proportional auf das Doppelte. Allerdings bekommen Teilnehmende hilfreiches Material an die Hand: etwa ein 260 Seiten starkes Handbuch mit wichtigen Informationen zu den einzelnen psychischen Störungen, zu Ansprechpartnern und Hilfsangeboten sowie Handlungsempfehlungen zur Unterstützung Betroffener. In einem weiteren Arbeitsheft können Kursbesucherinnen und -besucher Notizen machen und Erlerntes protokollieren.

Wo liegen die Schwerpunkte der MHFA-Kurse?

In den MHFA-Kursen werden psychische Erkrankungen wie Depression, Angststörung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Suizidalität und Psychosen besprochen. Bei der Aufbereitung der einzelnen Krankheitsgebiete dienen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie (DGPPN) als Grundlage. Außerdem läuft jeder Kurs – unabhängig davon, wer ihn leitet – nach einheitlichen Vorgaben ab. Die Inhalte sind lizenziert, was die Qualität und wissenschaftliche Überprüfbarkeit sichern soll.

Wie läuft ein Treffen ab?

Die Treffen sind ähnlich aufgebaut. Zu Beginn wird Basiswissen zu Symptomen und Risikofaktoren vermittelt. Manchmal werden Filme gezeigt, in denen Betroffene ihre Probleme schildern oder in denen Symptome wie Wahnvorstellungen verdeutlicht werden. Anhand vorgegebener Problemsituationen sollen gemeinsam Lösungen erarbeitet werden.

In kleinen Gruppen können die Teilnehmenden Erste-Hilfe-Gespräche üben. Dazu dienen zum Beispiel Rollenspiele. Die Kursleiterin schlüpft dann in die Rolle der depressiven Kollegin, die sich immer mehr zurückzieht. Ein Teilnehmer hat die Aufgabe, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er wendet Strategien an, die vorab besprochen wurden. Danach wird erörtert, was gut war und wo Unsicherheiten bestanden. Die Kursleitung beantwortet aufkommende Fragen.

Wir haben oft die Erfahrung gemacht, dass Angehörige aus Scham oder Unsicherheit ein Problem nicht ansprechen

Was sind Voraussetzungen für den MHFA-Kurs?

Prinzipiell richtet sich der MHFA-Kurs an Laien. Entsprechend ist keinerlei Vorwissen nötig. Allerdings ist es wichtig, selbst psychisch stabil zu sein. Denn der MHFA-Kurs ist kein Selbsthilfekurs und auf keinen Fall eine therapeutische Ausbildung. „Es geht darum, Menschen bei psychischen Problemen und Auffälligkeiten eine erste Stütze zu sein und notfalls weiter an Profis zu vermitteln“, so Deuschle.

Im Zweifelsfall sei das immer die Hausarztpraxis, bei der man auch zeitnah einen Termin bekomme. Oder eine Krisenhotline. Wer selbst mitten in der Krise mit einem psychisch kranken Angehörigen stecke, solle sich besser individuelle Hilfe holen. Das könne der Kurs nicht leisten.

Was ist das Ziel der MHFA-Kurse?

Die MHFA-Kurse sensibilisieren die Teilnehmenden für Anzeichen psychischer Gesundheitsprobleme in ihrem Umfeld. Man lernt, eine betroffene Person darauf anzusprechen – und mit ihr einen Plan zu machen, wie es weitergeht. Vor allem das Ansprechen sei für viele eine Hürde, so Deuschle: „Wir haben oft die Erfahrung gemacht, dass Angehörige aus Scham oder Unsicherheit ein Problem nicht ansprechen.“ Teil des Kurses ist auch, diese Scheu abzubauen. Mittlerweile gebe es in Deutschland 29.000 MHFA-Ersthelferinnen und -Ersthelfer, sagt Deuschle.

Wie nützlich ist die Hilfe durch MHFA-Kurse?

„Aus methodischen Gründen ist bislang schwer messbar, wie die Hilfe bei Betroffenen ankommt. Weil schwer herauszufinden ist, wo und wie die psychische Ersthilfe später zum Einsatz kommt“, erklärt Psychiater Deuschle. Metaanalysen haben allerdings gezeigt, dass durch die Kurse Wissen auf- und Stigmatisierung abgebaut wird. Für einen guten Heilungsprozess sollten psychisch kranke Menschen integriert und nicht mit Vorurteilen konfrontiert werden. Dazu können Erste-Hilfe-Kurse für die Psyche durchaus beitragen.

Wie mir mein Kurswissen vor 30 Jahren geholfen hätte? Rückblickend stelle ich fest, dass ich vieles intuitiv ganz gut gemacht habe. Ich war für meine Mutter da. Ich habe sie nicht alleingelassen, nicht verurteilt. Ich habe damals sogar versucht, mich ein Stück weit auf ihre erlebte Wirklichkeit einzulassen – um ihr Sicherheit zu geben.

Dank eines fiktiven Kurzfilms innerhalb des MHFA-Kurses kann ich mir heute noch besser vorstellen, was meine Mutter in ihrem Wahn aushalten musste: die Stimmen, die Verwirrung und die Ängste. Emotional überfordern würde mich die Situation heute wahrscheinlich aber noch immer. Schließlich geht es um meine Mama. Aber jetzt habe ich das Rüstzeug, Vorwürfen und Verurteilungen aus dem familiären Umfeld selbstbewusst entgegenzutreten. Aufgeklärt und ohne Schuldgefühle.


Quellen:

  • Mental Health First Aid Australia: Mental Health First Aid, Australia. Online: https://www.mhfa.com.au/... (Abgerufen am 12.03.2024)
  • Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim: MHFA Ersthelfer, Kurse für psychische Gesundheit. Online: https://www.mhfa-ersthelfer.de/... (Abgerufen am 12.03.2024)
  • Richardson R, Dale H, Robertson L et al.: Mental Health First Aid (MHFA) zur Verbesserung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens , Cochrane Database of Systematic Reviews. Online: https://www.cochranelibrary.com/... (Abgerufen am 12.03.2024)
  • Morgan A, Ross A, Reavley N: Systematic review and meta-analysis of Mental Health First Aid training, Effects on knowledge, stigma, and helping behaviour. Onnline: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 12.03.2024)
  • Bundesministerium für Gesundheit: Untersuchung zur Wirksamkeit einer Informationskampagne in den sozialen Medien zur Prävention psychischer Erkrankungen junger Erwachsener durch Wissensvermittlung und Sensibilisierung . Online: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 12.03.2024)
  • Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al.: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung, Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“. Online: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 12.03.2024)